Bloß keine 6!

Fragt man mich danach, worauf ich stolz bin im Leben, dann erzähle ich gern, wie ich es geschafft habe, erfolgreich durch meine letzten Mathe-Klausuren in der Schule zu kommen. Das habe ich nicht durch Lernen geschafft, sondern durch den Aufbau eines Pfusch-Systems, das ich mit Freunden ausgetüftelt hatte. Das war eine wertvolle Erfahrung für mich, die ich im späteren Leben immer wieder anwenden konnte: Es kommt nicht auf mein Wissen an, sondern darauf, zu wissen, wer meiner Freunde das Wissen drauf hat. Und wie es zu mir kommt.

 

Ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen. Ab dem 5. Schuljahr gab es mindestens fünf parallele Schulklassen, in der Oberstufe hatten wir über 140 Schülerinnen und Schüler im Jahrgang. Mathe konnte man noch nach dem ersten Halbjahr in der 11. Klasse abwählen und musste es nicht – wie heute – bis zum Abi mitschleppen. Einzige Voraussetzung dafür war, sich in der Oberstufe keine 6 in einem Mathekurs einzuhandeln. Leider war ich dieser Gefahr jedoch ausgesetzt, denn ich hatte mir in den Jahren zuvor elementare Lücken in mein Mathewissen gerissen, die ich so kurzfristig nicht mehr zu stopfen vermochte.

 

Wenn bei uns Klausuren geschrieben wurden, gab es immer jede Menge Durcheinander. Es schrieben mehrere Mathe-Grundkurse parallel ihre Klausuren. Die Schulleitung versuchte, alle Mathe-Grundkurse auf einem Stockwerk des Gebäudes schreiben zu lassen, um den Bereich vom sonstigen Schulbetrieb abzutrennen. Da die Grundkurse unterschiedlich groß waren, erschien es ganz normal, wenn nach fünf Minuten Klausurbeginn jemand anklopfte, den Raum betrat und fragte, ob noch zwei Stühle frei wären, sie würden im Nebenraum bei einer anderen Klausur gebraucht.

 

Natürlich waren zwei Stühle frei. Und zwar die, die neben den beiden Schülern standen, die in Windeseile die Klausur auf ein Blatt Papier abschrieben und dann mit Hafties (so nannte man damals kaugummiähnliche Klebestreifen) unter die Stühle klebten. Zwei flinke Schreiberlinge wurden benötigt, weil es aus völlig überzogenen Kontrollgründen stets A- und B-Klausuren gab. Mit den Stühlen wanderten auch die Klausuren nach draußen. Perfekte Tarnung, Schritt 1 unseres Plans klappte stets einwandfrei.

 

Im Silentium, so nannte man einen hässlichen, fensterlosen Raum, der der Oberstufe als – gröhl – Ruheraum exklusiv zustand, warteten mehrere Mathe-Leistungskursler, die die Chance am Schopf packten und sich durch flottes Lösen der Klausuraufgaben deutlich im Jahrgangsstufen-Coolness-Ranking nach vorn katapultierten. Die Lösungen wurden auf kleine Zettel geschrieben, die mithilfe von Kohlepapier vervielfältigt wurden. Die Zettel hatten das Format eines gefalteten Papiertaschentuches. Fleißige Helferhände, die sich ebenfalls Coolness-Punkten erhofften, legten die Lösungszettel in die Papiertaschentücher und die Tücher wieder zurück in die Umverpackung.

 

Es wurden zwei Taschentuchpackungen präpariert, einmal eine tAschentuch-Packung, einmal eine TemBo-Packung (kleine Mathe-Eselsbrücke), eine Packung war unten offen, eine oben. Die wurden dann auf einer Toilette deponiert, die dem Klausurraum am nächsten lag. Nach einer Schulstunde durfte man als Klausurschreiber erst auf die Toilette gehen. Wir kalkulierten eine Stunde fürs Lösen der Aufgaben und Erstellen der Taschentuchpackungen, aber meistens gings schneller. Der erste, der die Packungen auf der Toilette im Papierhandtuchbehälter fand, nahm sie mit in den Klausurraum.

 

Gehörte man zur der Gruppe A der Klausurschreiber und kam man nach einer intensiven Selbsteinschätzung zu der Erkenntnis, dass man die Klausur ohne Unterstützung versemmeln würde, dann fragte man laut in den Raum: „Hat mal jemand ein Taschentuch?“ Ihm wurde dann die Packung rübergereicht, er holte ein Taschentuch raus ließ die Packung auf seinem Pult so lange liegen, bis der nächste ein Taschentuch wollte. Wollte hingegen jemand ein „Tempo“ haben, dann bekam er die Taschentuchpackung mit den Lösungen der Gruppe B. Wir stellten nach der ersten ansonsten erfolgreichen Klausurmanipulation fest, dass zu schnell und zu häufig nach den Taschentüchern gefragt wurde. Wir justierten deshalb nach und vereinbarten für die nächsten Klausuren eine zehnminütige Sperrfrist nach einer unauffälligen mitmenschlichen Hilfestellung. Das klappte dann gut.

 

Das Herausfischen des Lösungszettels aus dem Papiertaschentuch gelang dem einen leidlich gut, dem anderen eher nicht so gut. Fakt ist, dass nie jemand beim Einschleusen der Zusatzfachinformationen ins offizielle Schulbewertungssystem erwischt wurde. Später und besonderer Dank gilt da dem Freund, der nicht nur Mathe-Leistungskursler war und im Wesentlichen das Lösungskompetenzteam organisiert hatte, sondern darüber hinaus auch – Zufälle bestimmen das Leben! – über eine gute, detaillierte Handschrift verfügte, so dass man auch noch die komplexesten Lösungswege nach scheuem, unauffälligen Blick gut erfassen und übertragen konnte.

 

Ich darf die Schwachstellen unseres Pfusch-Systems nicht verschweigen. Schwachstelle 1 war -- wie so häufig – die Eitelkeit. Die Eitelkeit meiner Mitschüler und mir, dieses spießig-gefährliche „Wenn-schon-denn-schon“. Es fiel sofort auf, dass der Notendurchschnitt wie eine Exponentialfunktion in die Höhe geschossen war. Aber man konnte nichts beweisen, verschärfte lediglich in der nächsten Klausurwelle die Toilettenaufsichten. Wir wollten damals diese Eskalation nicht, hatten aber angemessene Antworten darauf.

 

Wie bei allen Kassiber-basierten Täuschungssystemen ist die Entsorgung die Achillesferse des Pythagoras. Es kann alles gut geklappt haben, die satte 2 scheint sicher eingetütet, da reißt einen das Geräusch von zerknüllendem Papier aus allen süßen Träumen. Und – bums – so passierte es dann, zwei identische Pfuschzettel wurden bei Mitschülern gefunden, und die auch noch in zwei verschiedenen Mathe-Grundkursen! Das war ein klarer Fall für unseren Direktor, der sich augenblicklich in den Fall einschaltete und durch seinen Konrektor eine genauere Untersuchung durchführen ließ. Diese Untersuchungen versandeten jedoch angesichts eines funktionierenden Schweigekartells. Ich kam erfolgreich durchs Abi.